Das Fenstertheater

Vor vielen Jahren, ich war noch Schülerin, musste ich, wie alle Schüler und Schülerinnen meiner Klasse und Jahrgangsstufe, eine Interpretation über den Text „Das Fenstertheater“ von Ilse Aichinger schreiben. (Hier gelesen von Michael Koslar.)Diese Kurzgeschichte ist dem Band „Der Gefesselte. Erzählungen.“ entnommen. Heute nun habe ich mir mein damaliges „Werk“, also die Interpretation von einst, noch einmal durchgelesen, weil ich denke, dass der Text wie kaum ein zweiter in unsere Zeit passt und ganz besonders heute auch gehört werden muss. Paralell zum Lesen meiner jugendlichen Interpretation habe ich mich dann auch auf den Weg in die virtuellen Welten des Internets gemacht, dort recherchiert und mal nachgelesen, was ich da so über diese besondere Kurzgeschichte finden kann.

Es gibt vieles zu entdecken

Es gibt hier vieles zu entdecken. Für Lehrerinnen und Lehrer gibt es umfangreiche Unterlagen, die bei der Arbeit mit Interpretationen zu diesem Text hilfreich sein können. Für Schülerinnen und Schüler gibt es Beispiele, wie sie eine Interpretation dieses Textes anlegen können.

Es ist für alle gesorgt, nur nicht, wie ich meine, für die Intention von Frau Ilse Aichinger. In keinem einzigen dieser vielen Beispiele für eine „gelungene“ Interpretation kommt irgendjemand zum Kern der Gechichte. Diese Kurzgeschichte wird in den Schulen in den Jahrgängen der 11. bis 13. Klasse gelesen. Die Judendlichen sind in einem Alter, in welchem sie mit der deutschen und weltweiten Geschichte bis zur Neuzeit, also unserer realen Zeit im 21. Jahrhundert, vertraut sein sollten. Es ist ihnen also „eigentlich“ alles bekannt, was zu dem geführt hat, was schließlich als unfassbarer Machtmissbrauch über die Welt hereingebrochen ist. Die Schülerinnen und Schüler wissen, was es im Jahre 1933 möglich gemacht hat, dass ein diktkatorisches Regim von Nationalsozialisten die Macht in Deutschland mit dem Ziel übernehmen konnte, die gesamte Welt zu unterjochen und jegliches Leben zu elimenieren, das sich nicht in ihre Ideologie fügte.

Dieses Menschen – und Lebensverachtende Gebaren begegnet uns auch heute

Menschenverachtung, Lebensverachtung, Überheblichkeit und Machtgelüste führten einst zu diesem weltweit erfahrbaren Desaster und ebensolchen verächtlichen und missbräuchlichen Verhaltensweisen stehen wir heute – ebenfalls weltweit sichtbar – gegenüber. Denn die Menschenwürde und das Leben anders Denkender verachtende Tendenzen sind in allen Ländern der Welt zu beobachten.

Um so erschreckender sind für mich die Erkenntnisse meiner Internetrecherche zu diesem tiefgreifenden Text „Das Fenstertheater“. Nicht in einem einzigen Beitrag konnte ich eine weiterführende Interpretation finden. Überall fanden die Auslegungen ihr Ende bei den Themen Isolation, Kommunikation und Andersartigkeit. Neugierde kam vor, Fehlinterpretation einer Sitaution und „das Kind“ spielte in fast allen Textbeispielen, die für Lehrer und Schüler Anregung sein sollen! – keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle. Kann sich wirklich niemand vorstellen, dass eine Frau wie Ilse Aichinger tieferliegende Gedanken hatte und eine Intention verpackt hat in ihrer Geschichte, die nachfolgende Generationen aufrütteln und zum Vermeiden von Wiederholungen aufrufen will?

Wozu soll sie sonst einen solchen Text geschrieben haben? Komödiantisches und Oberfächliches gehörte wahrhaft nicht in ihr Repertoire.

Eine weiterführende Interpretation

Im Folgenden schreibe ich hier meine Interpretation von einst auf. Sie ist etwa 25 Jahre alt. Sie haben die Geschichte, gelesen von Michael Koslar, gehört. deshalb spare ich mir hier die Inhaltsangabe, die ja zu einer vollständigen Interpretation gehören würde.

Die Fragestellung war: An welcher Stelle ruft die Frau die Polizei und warum?

Wir können die Geschichte lesen und zu dem Schluss kommen, dass eine Frau, die etwas eingeschränkt in ihrer Wahrnehmung ist, einen Mann beobachtet, der etwas einfältig zu sein scheint. Der Frau, der das Verhalten des Mannes unheimlich zu werden droht, wird der Wind aus den Segeln genommen, als sie die Polizei holt, um dem Treiben am Fenster ein Ende zu bereiten. Bei der Aufklärung nämlich scheint es, als würden alle Beteiligten feststellen, dass der alte Mann lediglich einem Kind am Fenster der gegenüberliegenden Wohnung eine Freude machen wollte. Für die Frau galt die Wohnung gegenüber bis dahin als unbewohnt. Sie hatte sich selbst als die Angesprochenen gesehen und mit dieser falschen Wahrnehmung die Polizeiaktion ausgelöst.

Es gab solche Menschen

Der Interpretationsrahmen wäre erweiterbar. Dass es Menschen, die den Protagonisten der Kurzgeschichte ähnleln, im 3. Reich wohl gegeben haben wird, ist sicher unstrittig: Die, dem Regime treue Nachbarin, der vom System als verrückt bezeichnete Jude und das Kind, welches vielleicht mit seiner Familie, die geflüchtet ist, nun diese Dachgeschosswohnung unbemerkt von der neugieriegen Nachbarin bezogen hat. Das alles kann Interpretationsinhalt werden. Es tut der Geschichte nicht unrecht und führt weiter als alles, was ich bis jetzt im Internet gelesen habe. Es kommt auf jeden Fall der Intention der Autorin um einiges näher als eine Auslegung, die alleine auf Einsamkeit und Kommunikationsfehler aufgebaut ist.

Aber war es nur das, was die Autorin uns lehren wollte? Gibt es nicht noch weitere Dimensionen? Ist die Geschichte mit ihren Bildern nicht vielleicht auch mit einem Stein gleichzusetzen, der ins Wasser geworfen wird und der dann seine Kreise zieht? Ich will versuchen, die Bilder zu übersetzen so, wie ich sie verstehe und so, wie ein Verständnis der Weltgeschichte sie zu erklären hilft.

Die Frau

Die Frau, charkterlich in dieser Kurzgeschichte wenig intelligent, nicht in genügender Form wahrnehmend, leicht beeinflussbar, unkontrolliert in dem, was sie in ihrer Aufregung sagt, könnte als Methapher dastehen für „Die Macht“.

Die Macht in dieser Geschichte herrscht nicht aus dem Impuls der Liebe und dem Wissen um die Fallen und Schwächen des Lebens. Diese Macht paart ihre schwache Intelligenz mit ungenügender Wahrnehmungsfähigkeit und daraus resultierender Dummheit und setzt sie überheblich unter dem Vorwand ein, es gut zu meinen. Diese Macht wird unkontrollierbar und ist in der Lage ein noch viel größeres Theater zu inszenieren, als unsere wildeste Phantasie es sich auszumalen je im Stande wäre. Wer die Macht hat, hätte auch die Möglichkeit, die Geschicke der Welt in positive Bahnen zu leiten. In der Geschichte von Ilse Aichinger wird die Frau, „Die Macht“, auf Grund der ihr zugewiesenen Eigenschaften zum gefährlichen Werkzeug für Niedertracht, Bosheit und vielerlei Unglück.

Der Mann

Arglos, gutmütig und lebensfroh wird der Mann in dieser Geschichte dargestellt. Der Mann, ein Bild für den Begriff „Der Andere“, der zum Feind wird. Ergeben lebt er sein Leben. Arglos ist er im Umgang mit seinen Mitmenschen und mit den Geschäftigkeiten der Welt. Gutmütig geht er mit allem um, ohne zu hören, dass bereits eine Verschwörung gegen ihn in Gang gesetzt ist. Ebenso wie die Macht erkennt auch er die Zeichen nicht, doch im Gegensatz zu ihr, deren Ziel auf sein Ende gerichtet ist, lebt er dem Leben und der Freude entgegen. Ihnen gilt seine Energie.

Das Kind

Die dritte Person in der Kurzgeschichte ist das Kind. Der Artikel „das“ kann interpretiert werden für ein letztlich durch niemanden beeinflussbares Geschehen: Das Leben. Unberirrt von allem Treiben in dieser Kurzgeschichte, trotzt das Kind dem Schicksal, das sich so dirket vor ihm abspielt: es wirft der Zeitgeschichte, der Polizei, sein Lachen vor die Füße. Letztendlich wird das Leben sich durchsetzen.

In dieser Geschichte stehen sie sich gegenüber: Die Macht mit all ihren aus Unwissenheit und Boshaft gespeisten Manipulationsversuchen, Der Andere, der als Feind gesehen wird und Das Leben, welches dem Zeitgeschehen trotzt und über alle Anstrengungen, es auszuschalten nur lachen kann.

Die Tempi

Betrachte ich die Geschichte des Antisemitismus, so stelle ich fest, dass auch die verschiedenen Tempi innerhalb des Textes eine bildhafte Bedeutung bekommen. Lange bevor Adolf Hiltler an die Macht kam, bereitete die Geschichte sein Kommen vor. Sein unheilvolles Wirken wurde nur möglich, weil Mächtige, also „Die Macht“ die Zeichen nicht erkannten oder nicht in der Lage waren, sie richtig und verantwortlich zu deuten.

Antisemintismus ist eine Geisteshaltung, die sich als Zustand lange vor dem dritten Reich im Volk ausgebreitet hatte.

Es gab ohnehin leider kaum je eine Zeit, in der es keinen Antisemitismus in der Welt gab. In Europa jedoch spitze sich dieses gespenstische Treiben dramatisch zu als der vorhandene Hass gegen das Anderssein mit und durch Darwins Selektionstheorie eine neue Komponente bekam. Mit dem „Sozialdawinismus“ bekam die Volksselle leider eine scheinbar wissenschaftliche Erklärung für das, was sie schon immer zu wissen glaubte: Der Hass gegenüber dem Schwächeren, dem Unwerten, dem Juden war kein diffuses Gefühl mehr, weil es nun eine wissenschaftliche Erklärung zu geben schien.

Im Jahre 1858 stellte Darwin seine Theorie zum ersten mal ausführlich vor. Am 24. Juni 1922 wird der Reichsminister Dr. Walter Rathenau ermordet. Herr Rathenau war Sozialdemokrat und Jude. Er vereinte so alles, was den zukünftigen Machthabern als bekämpfens – und vernichtenswert erschien. Alles einzeln für sich war nicht gut, beides zusammen ballte sich für die Feinde der Weimarer Republik zum Gefahrenpotential und sie wollten mit ihrem Leben vernichtenden Tun zeigen, dass sie schon jetzt auf dem Weg zur Macht waren.

Alle Aufrufe, den Staat zu schützen, die neue und junge Republik Deutschland, verhallten, genauso wie heute, im Universum der Geschichte. (Nachzulesen in der Sonntagsausgabe des Berliner Volksblattes „Vorwärts“, Nr. 296, Jahrgang 39; Ausgabe A, Nr. 148.)

Noch wäre Zeit gewesen

Noch wäre Zeit gewesen, die Dinge zum Besseren, vielleicht sogar zum Guten zu wenden. Aber der Kampf der Mächte war nicht mehr zu verhindern. Die Alten erkannten die Zeichen und ihre Chancen nicht und die Neuen nutzen die Gelegenheit. Das gefährliche, lebensbedrohliche und vernichtende Drama begann.

Der Höhepunk der Geschichte: Die Frau ruft die Polizei

Zwischen der Veröffentlichung der Darwinschen Theorien bis zur Reichskristallnacht liegen 80 Jahre und genau das könnte der Moment in unserer Kurzgeschichte „Das Fenstertheater“ sein, an dem die Polizei in die Wohnung des alten Mannes eindringt. „Der Andere“, der alte Mann, wird vom „Zeitgeschehen“, von der Polizei eingeholt und überrollt. Hochdynamisch, in der Abfolge schnell hintereinander, schildert die Autorin, was in der Wohnung geschieht. Atemlos beschreibt sie, in verschlüsselten, in der Geschwindigkeit nicht lesbaren Bildern, die Geschichte der Judenverfolgung und die unfassbaren Gräuel dieser Zeit.

Die Macht wird in unserer Geschichte ihres Einflusses enthoben. Im wirklichen Leben endete der Machtmissbrauch mit einer verdienten Niederlage für die einen und mit dem Ende des Schreckens, der Verfolgung und des Krieges für die anderen. Überheblichkeit und menschverachtende Bosheit werden nicht vom Schicksal oder gar vom Leben belohnt. Die Verfolgung der Menschen, der Missbrauch, die Unmenschlichkeit dieser Zeit hat ein Ende und „Die Macht“ ist gebrochen. In unserer Kurzgeschichte wird das „Missverständnis“ aufgeklärt. Die Zeit jedoch zeigt, dass Vorgänge, die als Missverständnisse bezeichnet werden auch immer die Möglichkeit einer fadenscheinigen und über die wahre Motivation hinwegtäuschende Erklärung in sich bergen. Das ist eine stets schwebende Gefahr, weil Unfassbares dadurch klein geredet werden kann und wie wir wissen, ja auch kleingeredet wurde und wird.

Eine Frage bleibt offen

Eine Frage bleibt offen: Haben die Mächtigen tatsächlich verstanden, was hier geschehen ist? Die Autorin scheint nicht daran zu glauben, dass diejenigen, die die Macht haben je wirklich in der Lage sein werden zu erkennen. Die Frau am Fenster nimmt jedenfalls das Kind am gegenüberliegenden Fenster nicht wirklich wahr. „Die Macht“ ignoriert „Das Leben“, das ihr trotz allen Leides seine Kraft, sein Lächeln und seinen Überlebenswillen mit aller Kraft entgegenschleudert.

Vielleicht?

Vielleicht? ist diese, meine Interpretation eine mögliche Aussage zu der Kurzgeschichte von Ilse Aichinger:

Macht, ignoriere, zerstöre, wiederhole immerzu, tue was du willst. Ich, das Leben, bin stärker. Ich bin immer da und wenn du eines Tages in den Spiegel schaust, dann siehst du in meinen Spiegel: In den Spiegel der Zeit, in den Spiegel des Lebens, der einzigen und wirklichen Macht, die alles Sein zu jeder Zeit bestimmen wird, was immer auch Menschen zu tun gedenken.

Lassen Sie uns gemeinsam den Respekt vor dem Leben bewahren, indem wir achtsam mit unseren Gedanken, mit unseren Worten und und in unserem Tun sind. Erinnern wir uns gegenseitig an dieses Vorhaben, wenn wir bemerken, dass es für unseren Nächsten schwer wird, diesem Vorhaben nachzukommen und bleiben wir verständnisvoll im Umgang mit allem, was uns anders begegnet, als wir es gewohnt sind.

Herzliche Grüße von Susanne Dieudonné und von meinen Schwestern

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